Die erste Oper, die ich in der Neuen Welt sah, war Richard Wagners Tannhäuser. Ich war jung und in New York und es war einer meiner harmloseren Lebensträume, die damit in Erfüllung gingen, denn die Aufführung war in der Met, mithin in einem der Opernhäuser, die auf meiner Liste magischer musikalischer Orte standen, wo ich mindestens einmal in meinem Leben zuhören wollte. Schon als mein zukünftiger Mann und ich in der Upper West Side ankamen und über den Lincoln Square – den Platz, der wie ein pulsierendes Herz inmitten dieses von den schönen Künsten dominierten Viertels liegt – gingen, hatte ich ein Gefühl, dass ich nicht enttäuscht werden würde.
Der Platz strahlte fröhlich, Menschen liefen hier als zielbewusste Schlenderer und nicht wie geschäftige Ameisen herum. Die Brunnenfontänen vor dem Gebäude wirkten wie Orgelpfeifen, die sich für die Aufführung warmspielten. Über allem lockte der bunte Glanz der durch die mächtigen Bögen des Opernhauses sichtbaren Wandgemälde Marc Chagalls: The Triumph of Music und The Sources of Music – eine Explosion von Klängen in Farben.
Im Innern des größten Opernhauses der Welt angekommen (die Metropolitan Opera bietet 3900 Zuschauern Platz) besah ich als erstes neugierig die anderen Gäste. Ich selbst hatte mich gerne in Schale geworfen, aber, ja, wie erwartet und erhofft, waren die Menschen hier eine eindeutige Mischung von herrlichen Amerikanern, die sich je nach Tageslaune oder genereller Vorliebe in Abendkleider und Smoking, aber eben auch Jeans und Shirt gekleidet hatten. Etwas wehmütig dachte ich an meine Eltern, selbst große Opernfreunde, die uns vor einigen Monaten besucht hatten und die Freikarten, die ihnen bei einem Stadtbummel durch New York für die Met angeboten worden waren, dankend ausgeschlagen hatten, weil sie doch nun wirklich nicht angemessen gekleidet wären. Der großzügige Spender konnte noch so sehr auf sie einreden, dass es wirklich kein Problem war, mein Vater bestand darauf, dass er dort ohne Anzug nicht hineingehen würde und der Anzug sei nun einmal in Deutschland geblieben.
Meine Liebe zur Oper begann an einem dieser Weihnachtsfeste, an denen man noch klein genug ist, nur das Zauberhafte an den Feiertagen zu bemerken und alle Unstimmigkeiten und sonstige Unzulänglichkeiten der Feierlichkeiten einfach ausblendet. Ich wuchs mit zwei Großmüttern in der Familie auf, aber oft war an Weihnachten nur eine vertreten. Diesmal jedoch war meine Großmutter mütterlicherseits nicht zu ihrer anderen Tochter nach Hamburg gefahren, sondern bei uns in Nürnberg geblieben. Unterm Baum lag von ihr für mich eine Langspielplatte: Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel. Schon das Cover zog mich wie magisch an. Der Titel in kalligraphischen Schriftzeichen, darunter das farbenfrohe Bild von Hänsel und Gretel vor einer malerischen Waldidylle, bedroht nur von der Hexe und ihrem verführerisch duftenden Knusperhäuschen.
Aber wie all das verblasste, als ich die Musik hörte. Die Stimmen! Ich hörte die Platte wieder und immer wieder, bis ich jede Zeile auswendig mitsingen konnte. Meine Großmutter hatte mich ernst angesehen, als ich die LP ausgepackt hatte, und mir mitgeteilt, dass dies nur ein Teil des Geschenks sei. Ein Opernbesuch würde folgen, aber ich müsse mich eben vorbereiten und die Oper zunächst gut kennenlernen. Warum meine Großmutter das alles so ernst nahm, erzählte mir bald meine Mutter: Als junge Frau war Großmutter am Konservatorium in Würzburg aufgenommen worden, um dort Gesang zu studieren. Leider hat sie kurz darauf ihren zukünftigen Mann kennengelernt, der ihr beim Hochzeitsantrag sagte, dass nur eines ginge: er oder die Oper. Und so habe ich meine Großmutter nicht ein einziges Mal singen hören.
Aber in Hänsel und Gretel sind wir einige Wochen nach diesem Weihnachtsfest gegangen. Und ja, ich war vorbereitet, versicherte ich ihr stolz. Dachte ich jedenfalls. Als aber der Vorhang in der Nürnberger Staatsoper aufging, als die Stimmen einsetzten, als vor allem meine Lieblingsarie des Besenbinders mit ihrem Rallalala! erschallen sollte, hörte ich überrascht, dass dies alles so gar nicht klang wie zu Hause auf meinem Plattenspieler.
Wieso denn das Rallalala hier so gar nicht bewegend und berauschend geklungen hätte, fragte ich meine Großmutter in der Pause.
Mein Kind, erwiderte sie mit der ihr eigenen, etwas hochtrabenden Art, der Besenbinder würde auf meiner Aufnahme zu Hause schließlich von niemand anderem als Dietrich Fischer-Dieskau gesungen. Was ich denn erwartete, dass dieser Gott in Nürnberg auftreten würde?
Meine Großmutter war schon mehrere Jahre tot, als ich in der Metropolitan Opera saß und einige der ganz Großen den Tannhäuser singen hörte. Dass dort leger gekleidete Menschen saßen, hätte ihr – ganz im Gegensatz zu mir – sicherlich nicht gefallen. Ich kann mich daran erinnern, wie sie einmal meine Mutter tadelte, weil diese mit rosa lackierten Fingernägel in die Oper gehen wollte, ohne gleichzeitig ihre Fußnägel in derselben Farbe angemalt zu haben. Einig wären wir uns höchstens am Ende der Aufführung gewesen, als der Applaus begann. Großer Applaus. Aber kurz. Noch bevor ich mich überhaupt warm geklatscht hatte, hörte er einfach auf und alle gingen nach Hause. Gar nicht zu vergleichen mit den Beifallsstürmen, die ich bei manchen Operninszenierungen in Deutschland miterlebt hatte.
Ich habe keine Ahnung, womit sich dieses unterschiedliche Verhalten erklären lässt. Es ist einer dieser kulturellen Unterschiede, die mir zu unbedeutend erscheinen, um viel darüber zu rätseln. Aber ob das amerikanische Publikum auch so zurückhaltend reagierte, als Dietrich Fischer-Dieskau in New York tourte, würde mich dennoch interessieren. Er ist trotz Jonas Kaufmann mein Lieblingssänger geblieben.
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