Kinder des Kalten Krieges

Ich nehme an, man kann guten Gewissens behaupten, dass ich ein Kind des Kalten Krieges bin. Meine Eltern sind zwar beide im Jahr 1950 geboren, aber während meine Mutter als Kleinkind in Würzburg in Schaufenstern das Wirtschaftswunder bestaunen durfte, wuchs mein deutschstämmiger Vater im über 700 Kilometer weit entfernten Kravaře in der damaligen Tschechoslowakei auf. Von dort gelang es ihm mit seinem Bruder und seinen Eltern auf abenteuerliche Weise Ende der sechziger Jahre über Österreich nach Westdeutschland zu kommen, wo er wenige Jahre später in Nürnberg meine Mutter kennenlernte. Noch ein paar wenige Jahre später erblickten mein Bruder und ich die Welt.

Dass meine kleine Welt eine Welt des Westens war und dass dieser eine schlechte Beziehung zum Osten hatte, konnte mir schon als Kind nicht entgehen. Da war etwa der Umstand, dass sich unsere Beziehung zum größten Teil der Familie meines Vaters lange Zeit fast ausschließlich in der Form von Paketen abspielte. Bis dann nach vielen Jahren endlich eine der zahlreichen Verwandten aus Kravaře zu Besuch kam. Unvergessen ist mir davon vor allem geblieben, wie meine sonst nicht nah am Wasser gebaute Großmutter in Tränen aufgelöst am Bahnhof stand, als meine Großtante Gertrud – ihre ältere Schwester – wieder in ihr tschechisches Zuhause fuhr. Ich weinte von Herzen mit, denn die Frau, die da in ihrem selbst geschneiderten, mit großen und kleinen hellgrünen Punkten übersäten, dunkelgrünem Kleid todtraurig am offenen Zugfenster stand, war nach nur wenigen Tagen zu meiner Lieblingstante geworden. Wir sollten uns nie wiedersehen. Auch zu ihrer Beerdigung konnten weder ich noch meine Großmutter fahren. Als Kind begriff man die Details des Warum nicht so ganz genau, aber ich verstand wohl, dass von Verhaftung und illegaler Flucht in den Westen, von Mauer und bewaffneten Grenzübergängen geflüstert wurde, um die Situation zu erklären.

Im Gegensatz zu Tante Gertrud erlebte der Großteil meiner Verwandtschaft das warmherzige Ende des Kalten Krieges. Für uns hieß das vor allem, dass wir so bald wie möglich den Ort aufsuchten, den mein Vater und meine Großeltern uns schon so lange hatten zeigen wollen. Von diesem Besuch sind mir vor allem zwei Momente in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. Der eine kam, als mein Bruder und ich eines Abends allein in das einzige noch offene Lokal in der Gegend gingen und uns in gebrochenem Tschechisch jeder ein Bier bestellten. Als der Kellner zurückkam, stellte er genau in die Mitte des Tisches zwischen uns ein Bier. Auf unsere Nachfrage, dass wir eigentlich zwei Bier haben wollten, zeigte er Richtung Uhr und erklärte dann, dass wir uns das Bier bitte teilen sollen, denn sie machten um zehn Uhr zu. Es war halb zehn und während mein Bruder und ich uns kopfschüttelnd anlächelten, fuhr es mir durch den Kopf, ob es ein besseres Bilderbuchbeispiel hätte geben können, um uns nach jahrelangen erbitterten politischen Diskussionen zu beweisen, dass mein Vater mit allem, was er über den Sozialismus und über seine ins linke Milieu driftenden Kinder geschimpft hatte, vielleicht einen Punkt gehabt hatte.

Der andere Moment betraf einmal mehr meine Großmutter. Noch nie hatte sie mir von einer Frau namens Mikla Balonka erzählt. Aber jetzt stand diese Frau vor uns und umarmte wieder und wieder, mal weinend, mal lachend, ihre beste Freundin. Die Freundin, die jahrelang täglich mit ihr zum Einkaufen gegangen war. Die für ihre Hochzeit Unmengen von Kuchen für alle Gäste gebacken hatte. Die Freundin, deren Ehemann in der Badewanne eingeschlafen war, als die beiden Paare eines Abends zu viel Spaß gehabt hatten (ich habe meine Oma noch nie so jung, so ausgelassen lachen gesehen, wie in dem Augenblick, als Mikla Balonka diese Anekdote zum Besten gab).

Die beste Freundin eben, mit der man lacht wie mit keiner anderen. Die beste Freundin, die eines Tages vor über zwanzig Jahren erzählt hatte, dass sie und ihre Familie für ein paar Tage ihren Bruder in Wien besuchen würden.

„Kein Wort hast du gesagt, Mariechen, kein Wort, kein Brief, nichts…“

„Konnte ich doch nicht, Mikla, du weißt doch, was hätt’ ich denn, wie sollt’ ich auch…?“

Bald nach dieser Reise habe ich mein Abitur gemacht und mit meinem Geschichtsstudium begonnen. Dort habe ich auf eine ganz andere Weise erfahren, was „der Westen“ war, ist und allzu oft nur zu sein vorgibt. Und so wohnen seitdem zwei Seelen in meiner Brust, die momentan beide gebannt und konsterniert zusehen, wie Donald Trump die westliche Wertegemeinschaft untergräbt. Die eine hat sich von aller westlichen Scheinheiligkeit getrennt und fragt bedenklich „so what?“, wenn wieder ein Grundpfeiler westlicher Politik ins Wanken gerät. Die andere klammert sich an scheinbar unvergängliche westliche Ideale und erinnert sich daran, dass ich persönlich „den Westen“ trotz aller Versäumnisse und Verbrechen im Hinblick auf die Geschichte meiner Familie als humaner erlebt habe.

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