Ich war wegen der Musik gekommen. Daran hielt ich mich fest, als ich in die Runde von knapp zwanzig Menschen starrte, die ich noch nie gesehen hatte und die wie ich der Einladung meiner talentierten Nachbarin gefolgt und zu ihrem privaten Klavierkonzert gekommen waren. Das war bereits das dritte Konzert, das ich von ihr hören würde, und so verschlossen sie manchmal wirken konnte, ihre Ausdruckskraft mit Musik war beeindruckend. Zwei Präludien aus Johann Sebastian Bachs “Das Wohltemperierte Klavier”, gefolgt von einer Sonate Wolfgang Amadeus Mozarts und jeweils zwei Stücken von Johannes Brahms und Frédéric Chopin standen heute auf dem Programm. Sie würde bald anfangen zu spielen – wie immer ohne Noten.
Vorher jedoch kam der obligatorische, von mir gefürchtete icebreaker. Innerlich seufzend wartete ich, was sich der Hausherr – die Aufgabe, alle ins Gespräch zu bringen, fiel immer ihm zu – diesmal für uns überlegt hatte. Thanksgiving war gerade vorüber, fing er denn auch bald an, daher wollte er von uns allen wissen, wofür wir – erste Frage – dankbar waren und was wir uns – zweite Frage – für 2019 wünschten.
Würde jemand Politik einfließen und die Gelegenheit zur Wirklichkeitsflucht sowie die Harmonie des Klavierabends aufs Spiel setzen? Zumal ich eben erfahren hatte, dass Freunde und Familie aus Georgia anwesend waren, hatte ich meine Zweifel. In der Tat, von zwanzig Leuten sprachen außer zweien (mich eingeschlossen) von Familie, für die sie dankbar waren, und nebulösen connections, auf die sie im neuen Jahr hofften. Ich begann innerlich durchzugehen, welche der Gäste wohl sicher, welche vielleicht und welche sicher nicht für Trump gewählt hatten.
Dann war Musik und man konnte die Augen verschließen…
Viel später, nach einer Weile wohl verdienten Applauses, sprach die Pianistin dankbar von ihrem 101 Jahre alten Steinway Flügel und erwähnte dabei auch einen Vortrag ihres derzeitigen Mentors, den sie vor kurzem besucht hatte, und dessen Thema die Historikerin in mir sofort hellhörig werden ließ: Als die USA 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten, mussten viele Klavierbauer entweder schließen oder umsatteln – das Metall, das fürs Klavierbauen nötig war, wurde anderweitig gebraucht. Henry Steinway allerdings hatte die Idee billige und – mit nur einem Zehntel des normalerweise für Pianos verwendeten Metalls – extrem leichte Klaviere zu bauen und per Fallschirm an die Front zu schicken. So entstand das Projekt „Victory Verticals“, das US Soldaten mit patriotischer Musik bei Laune und in Kampfstimmung halten sollte.
Ob denn der Musikprofessor, der den Vortrag hielt, jetzt darüber nachdachte, mit seinem Klavier an die amerikanisch-mexikanische Grenze zu fahren, um für die dort versammelten Soldaten zu spielen, warf plötzlich der Gast ein, der vorher nicht auf connections, sondern politischen Anstand im Jahre 2019 gehofft hatte.
Das nicht, entgegnete die Pianistin, aber am Ende seines Vortrages, als er die amerikanische Nationalhymne „The Star-Spangled Banner“ spielte, habe der Dozent seine Zuhörerschaft eingeladen, ihren Patriotismus zur Schau zu stellen: sie könnten aufstehen; sie könnten ihre Hand aufs Herz legen; oder – und hier sank die Pianistin auf die Knie – sie könnten das tun.
Ja, nickte sie, als es plötzlich still im Raum geworden war, und alle – wirklich alle – taten kund, dass sie genauso dachten, wie sie und ihr geschätzter Mentor.
Und plötzlich wusste ich, dass kein einziger die-hard Fan von Donald Trump im Raum war.