AM SEE

Eine Geschichte von der Zeit zwischen den Jahren und danach

Das war damals in den Zeiten von Corona. Im ersten Jahr, im schlimmsten. Als sogar die in den reichen Ländern lebenden Menschen die Nachrichten ausschalteten, um besser schlafen zu können.

Es war das Jahr, in dem Emilys Mutter gestorben war. Nicht einmal an Covid. Die ganz betretenen Leute fragten damals immer sofort – “etwa an dem Virus?” – und wenn sie dann antwortete, “nein, an Krebs”, dann entspannten sich die Gesichtszüge der Fragenden irgendwie, als ob das ein klein bisschen weniger schlimm war. Wer sollte in diesem Jahr schon noch Angst vor dem alten gefräßigen Krebs haben?

Ihre Mutter natürlich. Ihre liebe Mutter hatte entsetzliche Angst gehabt. Nicht so sehr vor dem Sterben an sich. Aber ihre Tochter alleine zu lassen, nach allem was geschehen war, das war ihr arg. Die Scheidung der Tochter war gerade erst ein Jahr her. Der Tod des Enkelkindes bereits drei Jahre, aber die Mutter wusste, dass es für Emily immer noch wie der erste Tag war. Sie wusste, dass ihre Tochter jeden Morgen aufwachte und aufs Neue von dem tödlichen Unfall erfuhr, der ihr zufriedenes Leben beendet hatte. Und deshalb strengte sich die Mutter mit jeder Faser ihres Körpers an wenigstens so lange zu überleben, bis der Tag kam, an dem die Tochter den ersten Schock überwunden haben würde.

„Emily,“ sagte sie am Tag, bevor sie starb, müde zu ihr, „ich kann dich nicht allein lassen. Du bist noch nicht so weit.“

„Ich werde nie so weit sein, Mama.“ Emily hob ihre Hand und presste sie an den Monitor, über den sie ihrer Mutter im Krankenhaus zugeschaltet war. Seit Wochen durfte sie ihre Mama wegen der Quarantäne nur von ganz weitem sehen.

„Doch, Liebes, das wirst du. Irgendwann wird plötzlich ein Morgen kommen, an dem du ruhiger atmend aufwachen wirst. Und dann, irgendwann später, viel später, wirst du sogar einmal wieder lächeln.“ Das Sprechen fiel ihrer Mutter sichtlich schwer. Emily biss sich auf die Unterlippe, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Ich hoffe es, Mama“, presste sie mühsam hervor.

„Aber ja. Was würde ich geben, noch einmal dein Lächeln zu sehen.“

Die Tochter bleckte ihre Zähne in den Monitor. Ihrer Mutter kullerte eine einzige Träne aus dem rechten Auge.

„Dein echtes Lächeln, Emily,“ sagte sie heiser. Und dann: „Jetzt lass mich ein bisschen schlafen.“

Sie starb in den Mitternachtsstunden, beobachtet von ihrem Mann, Emilys Vater, der ihr wie jede Nacht zugeschaltet blieb.

Emily klammerte sich in den darauffolgenden Monaten an die letzten Worte ihrer Mutter, aber es wurde schwerer, nicht leichter. Die Beerdigung hatte sozial isoliert stattgefunden. Nur ihr Vater und sie saßen danach lange in vereintem Schmerz beisammen. Freunde und Bekannte taten ihr Bestes, um ihnen schriftlich beizustehen. Einige ganz tapfere waren sogar mutig genug noch anzurufen, obwohl Emily es in den letzten paar Jahren immer wieder fertig gebracht hatte, alle vor den Kopf zu stoßen – was immer auch sie über den Tod ihres Sohnes zu sagen versuchten, es war ihr nie gut genug. Jetzt sprachen sie über die Mutter und Emily ging nie ans Telefon, aber sie hörte sich jede Nachricht zu Ende an, bevor sie auf die Löschtaste drückte.

Dann kam der Herbst, den Emily nicht sah, weil sie jede Minute voller Arbeitswut im Studio verbrachte, und schließlich der Winter, der die zweite (oder war es die dritte?) Welle der Pandemie brachte. Alle klagten darüber, wie schwer es war, wieder in die Häuser verbannt zu sein, aber für Emily hatte sich nichts geändert, außer dass sie die Heizung anmachte. Sie bekam Urlaub. Hatte ihn nicht nehmen wollen, aber der Chef bestand darauf.

Emily hatte plötzlich viel zu viel Zeit. Die Nachbarin stellte ihr liebevoll verzierte Plätzchen in einer hübschen Blechdose in weihnachtlichen Farben vor die Tür, die Emily stumm ins Haus brachte und dann in Verwunderung darüber anstarrte, wie sie sich an solchen Kleinigkeiten einst hatte erfreuen können. Die Erinnerung, dass sie es einmal gut gehabt hatte, hämmerte ihr dabei im Kopf herum wie ein Presslufthammer und sie konnte den Lärm nicht abstellen, weil sie nichts anderes zu tun hatte.

 Schließlich kam der 6. Dezember 2020. Emily erinnerte sich immer an diesen Tag. Sie wachte auf, machte sich Kaffee und öffnete in ihren wärmsten Bademantel eingewickelt die Haustüre, um wie jeden Morgen die Zeitung hereinzuholen. Nur dass diesmal neben der Zeitung noch ein schmales, rechteckiges Paket lag. Emily hob es auf. Es war etwas ungeschickt in dunkelbraunem Packpapier eingewickelt und eher unästhetisch mit einem roten Wollfaden umwickelt. Aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, in Goldfarbe „Mit freundlichen Grüßen vom Nikolaus“ darauf zu schreiben. Die Schrift war merkwürdig, fein geschwungen und wie gemalt, aber gleichzeitig zittrig und unbeholfen.

Emily legte die Zeitung achtlos beiseite und öffnete das Paket. Darin war ein Buch. „Am Weihnachtsabend“ von Charles Dickens. Eine billige Neuausgabe und nicht einmal eine besonders schöne. Emily hatte zwei oder drei hübschere Versionen von dem Buch in ihrem Regal stehen. Trotzdem schien ihr die vor ihr auf einmal besonders verführerisch. Sie setzte sich hin, trank einen Schluck Kaffee und schlug das Büchlein auf. Die Schrift war so klein, dass sie die Augen etwas zusammenkneifen musste. Eine Lesebrille brauche ich also jetzt auch, dachte sie noch, dann fing sie an zu lesen.

Einige Stunden später war sie bereits am Recherchieren. Sie hatte die ganze Geschichte in einem Zug gelesen. Nun wollte sie wissen, wer sie ihr vor die Tür gelegt haben könnte. Es passte so gar nicht zu ihren Freunden und Bekannten. Trotzdem schrieb sie Emails und Textnachrichten an alle, die ihr in den Sinn kamen. Aber niemand von ihnen gab sich als Absender des Paketes zu erkennen. Ein Nachbar erzählte allerdings, dass er auch so ein Paket erhalten hätte. „Hat uns wohl irgendjemand einen Weihnachtsscherz bereitet,“ kommentierte er nur. Emily wollte entgegnen, was bitte ihn dazu veranlassen könnte, diese Geste als Scherz zu bezeichnen, aber im letzten Augenblick besann sie sich und zuckte statt dessen nur mit den Schultern.

Ein paar Tage später ging sie mit ihrem Vater spazieren. Es war immer noch merkwürdig, sich nicht wie sonst bei ihm unterzuhaken, sondern in zwei Metern Abstand nebeneinander zu gehen. Sie liefen in Richtung See und Emily erzählte ihm von dem mysteriösen Paket.

„Wie schön“, sagte er nur, „das hätte eine Idee von deiner Mutter sein können.“

Emily nickte und öffnete den Mund, um irgendetwas über ihre Mutter zu sagen, aber sie konnte nicht und ihre Lippen schlossen sich wieder. Sie starrte auf den Waldweg, auf dem sie entlangliefen. Es war eine Mischung aus festgefrorenem Matsch und einer dünnen Schicht Schnee, der heute Morgen gefallen war. Plötzlich stoppte ihr Vater und sie hörte ihn laut Richtung See rufen.

„Wunderschöner Ausblick, nicht wahr?“

Emily folgte seinem Blick und sah ein junges Mädchen auf der Bank am Seeufer sitzen. Sie trug einen überdimensionalen, grob karierten rotschwarzen Parka und eine farblich passende Mütze. Das war kein Modetrend, aber Emily fand dennoch, dass ihr Outfit Stil hatte. Sie glaubte, das Mädchen schon einmal irgendwo gesehen zu haben, aber hatte keine Ahnung wo.

Das Mädchen hatte bemerkt, dass Emilys Vater sie angesprochen hatte, und zog sich gerade die Kopfhörer aus den Ohren heraus. Dabei fiel ihr die Mütze herunter und sie sprang auf.

„Entschuldigung!?“, fragte sie mit leicht atemloser Stimme, während ihre Füße aufgeregt auf der Stelle herumtänzelten.

Emily war gerührt davon, wie höflich das Mädchen ihren Vater behandelte.

„Nein, ich muss mich entschuldigen“, sagte dieser nun. „Ich wollte dich nicht beim Musikhören stören! Hab‘ nur gesagt, wie schön der Ausblick hier ist…“

„Oh, ja“, antwortete das Mädchen und ließ ihre Augen dabei schüchtern zwischen See und dem Boden zwischen ihnen gleiten.

„Na“, fuhr der Vater fort, „lass dich von uns nicht stören! Meine Tochter hier wohnt ganz in der Nähe, deswegen treiben wir uns hier herum. Du kennst sie vielleicht vom Fernsehen? Emily Waters?“

„Ach, Papa, das ist nicht die Altersgruppe, die mich kennt“, unterbrach ihn Emily. „Sorry für die Störung!“, fügte sie dann freundlich an das Mädchen gewandt hinzu.

„Oh, ich kenne Ihre Sendung“, entgegnete das Mädchen und ihre Stimme klang auf einmal eine Oktave tiefer. „Den Bericht über das abgebrannte Flüchtlingslager in Lipa und die EU Flüchtlingspolitik von letzter Woche fand ich besonders interessant!“

„Wow“, entfuhr es Emily. „Ich meine, danke, ich bin nur überrascht, dass du den gesehen hast.“

Das Mädchen lächelte verlegen und blickte wieder zu Boden.

„Wird dir nicht kalt hier?“, fragte Emily jetzt.

„Hm, ein bisschen. Aber ich sitze gerne hier.“

„Was hörst du dir denn an?“, fragte Emily weiter.

Das Mädchen fummelte ungeschickt am Kabel ihrer Kopfhörer herum und steckte sie sich zurück ins Ohr, während sie mit leicht erstickter Stimme „das neue Album von Taylor Swift“ antwortete.

„Na dann…“, sagte Emily, die das als eindeutiges Zeichen verstand, dass das Mädchen gerne ungestört weiterhören wollte, „lass dich von uns nicht weiter stören. Schönen Tag noch!“

„Und Ihnen auch“, rief das Mädchen, zog sich ihre Mütze an und setzte sich wieder auf die Bank.

„So lieb und so höflich“, sagte Emily zu ihrem Vater, als sie außer Hörweite waren und sah sich noch einmal nach ihr um. Das Mädchen war wieder aufgestanden und ging unschlüssig zwischen Seeufer und Bank hin und her. Als Emily sich das nächste Mal nach ihr umdrehte, war sie verschwunden.

Am nächsten Tag machte sich Emily um die gleiche Zeit wieder auf den Weg zum See. Ihr Zwangsurlaub würde noch geschlagene drei Wochen andauern und der Spaziergang mit ihrem Vater gestern hatte ihr gut getan. Außerdem ging ihr das Mädchen nicht aus dem Kopf. Ihre vorsichtigen, tänzelnden Schritte zwischen Bank und See, als ob sie den Waldboden unter sich nicht verletzen wollte. Die fahrigen Hände, die noch nicht zu wissen schienen, wo sie eigentlich hingehörten. Emily hätte das Mädchen am liebsten ganz offiziell interviewt, um herauszufinden, ob sich hinter diesen Manierismen eine interessante Person verbarg, und das war ein Bedürfnis, das sie bei einem so jungen Menschen eigentlich noch nie verspürt hatte.

Sie freute sich, als sie den rotschwarz karierten Mantel von weitem durch die Baumstämme schimmern sah. Aber gerade als sie sich der Kurve näherte, nach der vom Waldweg der kurze Trampelpfad Richtung Bank abzweigte, hörte sie Stimmen vor sich. Zwei Mädchen und ein Junge kamen auf einem der Seitenwege gelaufen, die von der Nachbarschaft zum Seeweg herunterführten.

„Oh, schau, da ist Simone!“, hörte Emily eines der Mädchen sagen. Instinktiv drehte Emily sich um und fing an zurückzulaufen, aber dann stoppte sie abrupt.

„Die ist so strange“, hörte sie den Jungen sagen. „Ich meine, wie kann man einigermaßen gut aussehen und trotzdem das genaue Gegenteil von sexy sein!?“

Die beiden Mädchen gackerten hinter vorgehaltener Hand los wie die sprichwörtlich aufgescheuchten Hühner.

Dann sagte eine von ihnen: „Hör auf, und außerdem war Marissa gut mit ihr befreundet.“

„Das war nur im Kindergarten!“, verteidigte sich Marissa.

„Lügnerin!“, legte die andere nach. „Auch in der Grundschule, die ganze Zeit!“

„Ja und? Konnte ja keiner wissen, wie komisch sie werden würde!“

„He“, fuhr Marissa jetzt in verschwörerischen Ton fort, „habt ihr schon gehört, was für einen Stunt sie letzte Woche hingelegt hat?“

„Was denn?“, fragte der Junge interessiert und stellte sich auf die Zehenspitzen, so dass er nach einem Ast über sich greifen konnte. Dann ließ er seinen durchtrainierten Körper lässig nach vorne baumeln und blickte in Richtung Simone, die mit umeinander verschränkten Armen und hoppelnden Beinen auf der Bank am See saß und dankenswerterweise kein Wort von dem zu hören schien, was gerade über sie gesprochen wurde.

„Am 6. Dezember hat sie überall in der Nachbarschaft Buchpakete verteilt! Ohne Absender! In den Worten von meiner ach so gerührten Mutter, ‚einfach um den Leuten eine Freude zu bereiten!’“

„Echt jetzt?“, fragten der Junge und das zweite Mädchen gleichzeitig.

„Ja, echt jetzt! Meine Mutter ist mit der ihren Eltern befreundet und die haben es ihr erzählt. Zwanzig Ausgaben von Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte!“

„Ah, das ist so cringe! Wie lost muss man denn eigentlich sein, um so was abzuziehen?!“

Emily atmete tief ein. Ihr Bedürfnis, um die Kurve zu biegen und den drei Teenagern kollektiv auf die Fresse zu hauen, war übermächtig. Plötzlich krachte es und sie hörte einen Aufschrei.

„Tom! Oh no, bist du ok???“

Der Ast war abgebrochen und Tom auf der Schnauze gelandet. Emily blickte durch die Bäume zur Bank. Das Tohuwabohu hatte sogar Simone mitbekommen. Sie war aufgesprungen und war gerade dabei sich die Kopfhörer aus den Ohren zu ziehen. Dabei ging sie erst zwei Schritte auf die anderen Teenager zu und dann gleich wieder drei Schritte zurück.

„He!“, rief sie zaghaft. „Hi, Marissa, oh Gott, braucht ihr Hilfe?“

Die drei brachen in schallendes Gelächter aus und machten sich davon.

„Alles in Ordnung“, rief Marissa ihrer ehemaligen Freundin über die Schulter hinweg entschuldigend zu und der Junge fügte lachend hinzu: „Lies ruhig weiter schön Charles Dickens!“

Simone zog sich ihre Mütze vom Kopf und blickte ihnen nach. Dann drehte sie sich zurück zum See, ging ein paar Schritte vorwärts, stoppte und schwankte unschlüssig hin und her. Schließlich setzte sie sich wieder auf die Bank. Sie schlang die Arme um die Brust und beugte sich etwas nach vorne. Nach einer Weile setzte sie die Mütze wieder auf.

Emily waren Tränen in die Augen getreten, während sie Simone beobachtete. Dann gab sie sich einen Ruck und lief so schnell sie konnte nach Hause. Sie riss die Tür auf und raste zu einem ihrer Bücherregale. Wo, wo, wo – da! Da war es! Emily griff nach dem Buch und machte sich zurück auf den Weg zur Bank am See. Sie war furchtbar außer Atem, als sie ankam, aber die Eile hatte sich gelohnt, denn Simone war gerade am Gehen, als Emily um die Kurve bog.

„Hey!“, rief sie ihr zu.

„Oh, hallo!“, entgegnete Simone mit einem schüchternen Lächeln, das aber sofort wieder verblasste, als sie sah, wie ernst Emilys Gesicht blieb. Emily konnte dünne hellrote Spuren auf den blassen Wangen des Mädchens sehen. Mühsam schluckte sie den Hass auf die drei von vorhin herunter und sagte mit freundlicher Stimme: „Ich wollte dir etwas geben.“ Sie reichte ihr das Buch. Simone sah sie fragend an.

„Es ist eine meiner Lieblingsnovellen. Über einen wiedergefundenen Freund. Ich wollte sie dir schenken.“

„Oh, wirklich? Das ist…, das ist aber…, danke…“

„Es ist so“, unterbrach Emily sie. „Ich habe vor einigen Tagen selbst ein Paket mit einem Buch erhalten. Keine Ahnung von wem. Lag einfach plötzlich vor meiner Tür.“

Simones Augen flatterten plötzlich so sehr von einer Richtung in die andere, dass es Emily in den Sinn kam, es müssten zierliche Vögel in ihren Pupillen gefangen sein.

„Es hat mir den schönsten Morgen seit langem bereitet“, fuhr sie mit fester Stimme fort. „Dieses Geschenk, das wollte ich einfach weitergeben. Ich dachte, du würdest so eine Geste vielleicht zu schätzen wissen.“

Das Mädchen lachte leise auf und die flatternden Augen setzten sich beruhigt. „Ja, gerne“, stammelte sie dann, „ich meine, danke!“

„Lies es und lass mich wissen, ob es dir gefallen hat, ok? Warte“, Emily zog den obligatorischen Bleistift, den sie immer bei sich trug, aus ihrer Jackentasche und nahm Simone das Buch noch einmal aus der Hand, „hier ist meine Adresse. Komm vorbei, wenn du fertig bist. Ich habe gerade Urlaub. Natürlich kann ich dich wegen der Pandemie nicht ins Haus lassen, aber ich kann im Garten ein Feuer anmachen und dir einen heißen Tee anbieten.“

„Oh!“ Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht. „Gerne! Ich lese sehr schnell!“ Dann verstaute sie das Buch in eine Jutetasche, die sie von der Bank holte. Emily konnte sehen, dass sich darin bereits zwei weitere Bücher befanden.

„Dann auf ganz bald“, sagte sie und wandte sich ans Gehen.

„Ist morgen Nachmittag gut?“, platzte das Mädchen heraus.

Emily drehte sich um.

„Morgen Nachmittag drei Uhr ist perfekt“, antwortete sie.

Das war jetzt ziemlich genau zwölf Jahre her. Seitdem war kein Jahr vergangen, in dem Emily um den 6. Dezember herum kein Buchpaket vor ihrer Haustür gefunden hatte. Natürlich wusste Simone längst, dass Emily wusste, wer ihr diese Pakete schickte. Als Absender hatte sie trotzdem immer “vom Nikolaus” darauf geschrieben, auch als die Pakete aus fernen Städten und Ländern kamen, weil Simone den See um die Ecke von Emily und die kleine Welt darum herum längst verlassen hatte.

Nur dieses Jahr war noch kein Paket gekommen und je näher die Weihnachtstage kamen und gingen, desto ungeduldiger wartete Emily auf den täglichen Besuch des Postboten. Als dann das neue Jahr begann und sie noch nicht einmal eine Textnachricht von Simone erhalten hatte, machte Emily sich ernsthaft Sorgen. Es lag nicht in der Natur von Simone nachlässig zu werden, wenn es um solche Dinge ging. Und dann kam Mitte Januar doch noch ein Paket. Nicht per Post. Eines Morgens lag es einfach vor der Haustür. In dunkelbraunem Packpapier, mit rotem Wollfaden umschlungen. In steiler goldener Schrift stand darauf zu lesen: „Wie immer mit freundlichen Grüßen – und der Bitte um Nachsicht für die Verzögerung (Schuld daran ist nur der Verlag!) – vom Nikolaus“.

Emily stellte ihre Teetasse zur Seite und riss das Paket auf. „Am See“ hieß das Buch. Geschrieben von Simone Moreau. Emily betastete den Umschlag vorsichtig, hielt es hoch ins Sonnenlicht und bewunderte das Artwork des Covers. Dann ging sie zu ihrem Lieblingssessel am Fenster. Sie schlug das Buch auf und schnappte nach Luft, als sie das Blatt nach dem Titelblatt sah. „Für Emily“ stand da in gedruckten Lettern. Und handschriftlich darunter: Treffen wir uns nachher am See?

Emily lächelte. Dann fing sie an zu lesen.