Ein Christkind auf Abwegen

Die Flocken tanzen auf uns zu und am liebsten möchte ich genau wie das Kind vor mir die Zunge nach ihnen herausstrecken und laut „Hurra!“ rufen. Aber ich blicke nur blinzelnd nach oben. Meine Augen fangen an zu schwimmen, ich schlucke. Im Alter werden nicht nur die Knochen anfälliger. Mein Gemüt ist zerbrechlich geworden. Ich senke den Kopf und wende mich dem Geschehen auf der Bühne zu, wo die wahrscheinlich größten Elfen der Welt im Weihnachtsmedley mittlerweile beim „Jingle Bells“ angekommen sind. Sie fassen sich dabei gegenseitig an den Händen und schwingen ihre wulstigen Schaumgummiarme im Takt.

„Geschmacklos“ glaube ich es plötzlich irgendwo hinter mir zu hören. Ich drehe mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist, und meine Augen heften sich an eine zierliche, alte Frau, die sich an vielen dickbäuchigen Amerikanern vorbei zielstrebig nach vorne schlängelt. Rechts hinter mir bleibt sie stehen. Ihre Augen funkeln wie zwei blaue Diamanten in ihrem von tausenden kleinen und großen Falten durchwirkten und von glänzend silbernen Haaren umspielten Gesicht, das trotzdem noch zart und fein wirkt, sodass ich mir suchend über Haut und Haare streiche, ob auch ich irgendwo noch so etwas Schönes an mir haben könnte.

Ich starre die Frau unverfroren an, doch sie beachtet mich überhaupt nicht, denn sie ist ihrerseits ganz und gar vom Geschehen gefangen genommen, das sich mittlerweile auf der Bühne vor uns abspielt. Die überdimensional großen Wichtel sind abgetreten und die normale Lautstärke Chicagos hat sich über die Daley Plaza gelegt. Während man den letzten gigantischen Zwerg hinter die Bühne wackeln sieht, tritt bereits eine Gestalt vor das Mikrofon, die in ein fließend wallendes, weißgoldenes Gewand mit großen Engelsflügeln gehüllt ist. Von ihrem Haupt fallen lange, leuchtend goldene Locken herab, die oben von einer funkelnden Krone geziert werden.

„Es ist also wirklich wahr“, sagt die Frau plötzlich laut – und wieder auf Deutsch – ohne dabei ihre Worte direkt an mich oder irgendeinen anderen der umstehenden Menschen zu richten. „Das Christkind. Hier in Chicago.“ Sie klatscht in die Hände und lacht auf, doch einen Augenblick später schlägt sie sich ihre rechte Hand hart vor den Mund, als ob sie verhindern wollte, dass ihr noch ein weiteres Wort entweichen könnte.

So sehr ich schon vorher fasziniert war, bin ich jetzt in einem Zustand völliger Gefangenheit, zumal es für mich angesichts ihres akzentfreien Deutsch keinen Zweifel mehr an der Herkunft der Frau geben kann. Meine Muttersprache ist mir eine kostbare Seltenheit geworden. Nach dem Tod meiner Eltern war mein Bruder der einzige gewesen, mit dem ich hier in Amerika immer noch auf Deutsch gesprochen hatte, aber auch er war nun schon fast drei Jahre tot, und meine Kinder hatten sich nie für die deutsche Sprache erwärmt. Als ich die deutschen Klänge jetzt so unerwartet höre, überkommt mich sofort wieder das Gefühl des unmittelbaren Verständnisses. In unserer Muttersprache ist alles ungeschönt. Kein Schutz ist da, keine Wörter, hinter denen man seine Gefühle verstecken kann. Die Wörter sind die Gefühle.

Die Frau scheint mich und mein aufdringliches Starren noch nicht bemerkt zu haben. Sie wirkt völlig beglückt, ihre Lippen bewegen sich und sie murmelt leise etwas vor sich hin. So unauffällig wie ich kann trete ich einen Schritt näher und höre, dass sie Wort für Wort mitspricht, was die Engelsgestalt auf dem Podium aufsagt.

Es ist in der Tat ein schönes Schauspiel da vorne, zumal es sanft aber vernehmlich weiter schneit, was selbst die von Wolkenkratzern eingerahmte Daley Plaza mit der überdimensionalen Picassostatue irgendwie weihnachtlich macht. Die mehrere Meter hohe Figur, die ich sonst immer als bedrohend und düster empfinde, scheint auf einmal mild gestimmt, wirkt fast engelsgleich neben dem Weihnachtsbaum, der sich über ihr in den Himmel streckt, mit den Wolkenkratzern aber lange nicht mithalten kann.

Trotzdem wirkt die Gestalt vorne auf der Bühne, die von der Frau als  „Christkind“ bezeichnet worden war, hilflos fehl am Platz, auch wenn sie mittlerweile angefangen hat, ihre Verse nun auch auf Englisch zu rezitieren. Die Großstadtkulisse erdrückt sie durch ihre Bauten, ihren Lärm, ihren grellen Schein. Die gigantischen Zwerge und Wichtel waren all dem besser gewachsen gewesen.

Ich höre es denn auch bald aus allen Richtungen stöhnen, kichern und glucksend fragen, wer das da vorne eigentlich sein solle.

„Is it supposed to be a fairy?“

„Mother Nature, maybe?“

Gelächter.

Ich muss an meine Mutter denken, die sich gerne über den Mangel an amerikanischer Festtagsstimmung lustig gemacht hatte, die ihrer Meinung nach nicht mit der vorweihnachtlichen Atmosphäre in Deutschland mithalten konnte. Als Kind hatte ich das als Hochmut unserer neuen Welt gegenüber empfunden, die ja viel schneller als für meine Eltern auch meine Welt wurde. Später dann hatte ihre Kritik mich gar zur Weißglut gebracht. Deutschland, das Land, aus dem man uns vertrieben hatte wie Ratten, aber sie trauerte der dortigen heimeligen Atmosphäre hinterher. Wagte von deutscher Besinnlichkeit zu sprechen!

Meine Mutter ist von den Nationalsozialisten zur Jüdin gemacht worden. Ihre Eltern waren zum Christentum konvertiert und hatten ihre Tochter bereits als Baby in der Berliner Trinitatis-Kirche taufen lassen. Die Hochzeit mit meinem Vater fand in derselben Kirche statt. Zwei Jahre später – 1925 – kam ich auf die Welt. Die ersten neun Jahre meines Lebens wuchs ich in der Gewissheit auf zur protestantischen Mehrheit in Deutschland zu gehören. Ich hatte keine Ahnung, warum bei uns der Weihnachtsbaum manchmal schelmisch „Chanukkabusch“ genannt wurde, und es kam mir damals auch nie in den Sinn zu fragen. Hauptsache war mir, dass unsere ganze Familie Weihnachten zu feiern liebte.

Bei meiner Mutter änderte sich daran auch nach ihrer Emigration nichts. Dabei war sie nicht einmal besonders religiös. Ihr gefielen die Bräuche, die kleinen Tschotschkes, wie sie all den Nippes zu nennen pflegte, die es zur Weihnachtszeit gab. Unsere ganze Wohnung war in den Dezemberwochen mit dem Zeug vollgestopft. Als ich klein war, liebte ich es: Wir schmückten zusammen unsere Wohnung und wenn es so richtig gemütlich war, kuschelten wir uns auf dem Sofa aneinander und lasen ein Buch zusammen.

Doch dann wurde ich älter. Ausgewachsen. Erwachsen. Entwachsen. Verwachsen.

So hoch gewachsen war ich, dass ich auf all das – und auf sie – herabsah.

Ich konfrontierte sie damit, warum wir in unserem Zuhause zwar Weihnachten, aber nicht einmal Jom Kippur oder wenigstens Chanukka begingen. Sie versuchte mir zu erklären, dass sie sich weder dem christlichen noch dem jüdischen Glauben verbunden fühlte und dass auch der Weihnachtsbrauch für sie keine religiöse Bedeutung hatte, aber ein Stück gestohlener Heimat und vertrauter Familienrituale wiederbrachte. Die ‚spirituelle Geborgenheit meiner Kindheit’, nannte sie es.

„Spirituelle Geborgenheit bei den Nazis?!“, schrie ich sie einmal an.

Den Nationalsozialisten wolle sie nicht auch noch die Macht geben, ihre Kindheit neu zu definieren, entgegnete sie mir ruhig. Ich konnte an ihren Augen sehen, wie sehr sie wollte, dass ich sie verstand. Doch meine Verachtung hielt jahrelang. Ich boykottierte Weihnachten. Verbot mir selbst die Freude an etwas, das mir insgeheim noch ganz genauso gut gefiel wie ihr und meinem achtjährigen Selbst des Jahres 1934 in Berlin, dem eines Tages am Küchentisch mit heiserer Stimme erklärt wurde, dass es neuerdings als Halbjüdin gelte und dass man zusammen so schnell wie möglich Deutschland verlassen werde.

Erst als ich mein erstes eigenes Kind bekam, zerstob mein jugendlicher Zorn auf Mutti. Vielleicht weil ich einfach keine Zeit mehr hatte, wütend auf sie zu sein. Meine Kinder wuchsen auf und ich wuchs wieder enger mit meiner Mutter zusammen. Ich hatte sogar bereits die Tickets nach Deutschland gebucht: Sie und Paps standen kurz vor der Rente, und mein Überraschungsgeschenk würde sein, dass ich mit ihr auf einen Urlaub ins Deutschland der Vorweihnachtszeit fahren würde. Mein Vater, der „Arier“, wollte nicht mitkommen. Deutschland hatte seiner Frau und seiner Tochter nach dem Leben getrachtet. Der Blick, den er meiner Mutter dabei zuwarf, war Erklärung genug.

Aber Mutti war aus anderem Holz geschnitzt. Sie wollte der Vergangenheit ins Gesicht schlagen, sie auslachen, so dass sie sich in Scham in den dunkelsten Winkel verkriechen und nie mehr hervorkommen würde. Also schmiedeten wir wenige Wochen vor dem großen Tag Pläne: Wir würden Zuckeräpfel und Lebkuchen essen, Christbaumschmuck aus Holz und Strohsterne kaufen und dampfenden Glühwein bei Kerzenschein trinken. Vielleicht würden wir Glück haben und es schneite sogar. So oder so würden wir die Vergangenheit überlisten.

Dann der Unfall. Ihr Tod. Noch ein Tod. Der eine konnte ohne die andere nicht sein und sein Herz hörte noch vor ihrer Beerdigung auf zu schlagen. Ich saß in unserem Haus in Chicago, mein Schmerz steckte so tief, dass ich selbst nicht einmal nah genug an mich herankommen konnte, um ihn zu fühlen. Es zog mich unwiderstehlich nach Deutschland. Das wenigstens fühlte ich. Mein Mann, meine Kinder, sie rieten mir davon ab, aber ich schüttelte ihre Bedenken ab wie Fliegen. Ich mußte Deutschland wiedersehen. Also setzte ich mich Anfang Dezember ohne meine Mutter ins Flugzeug. Den leeren Platz neben mir füllte ich mit Decken und Kissen. Immer wieder langte ich hinüber, um meine Hände dort aufzuwärmen. Sofort nach meiner Ankunft ging ich auf einen Weihnachtsmarkt. So viele Weihnachtsmärkte wie ich konnte, wollte ich sehen. Ich hatte die zwanghafte Idee, dass sie durch mich mitschauen konnte. Ich fing in Frankfurt an, dann nach Bonn, Köln und Düsseldorf, machte mich auf den Weg nach Heidelberg, München und Dresden und endete schließlich in meiner vergessenen Heimatstadt Berlin, wo es so viele Weihnachtsmärkte gab, dass es mir trotz meiner schmerzentbrannten Entschlossenheit nicht gelang, sie vor meinem Abflug alle abzuklappern.

Ich liebte zuerst jeden Augenblick. Ich verstehe, Mutti, raunte ich immer wieder, ich verstehe dich! Aber ich wurde mit jedem Weihnachtsmarkt kurzatmiger. Die Lieblichkeit all der Figuren und Bräuche begann mich zu erschüttern. Wirklich, es ratterte in meinen Ohren. Ein paar Mal verlor ich vor manch lieblicher Krippe oder einem besonders sanften Engelsgesicht das Gleichgewicht. Und dann sehnte ich mich langsam zurück nach zu Hause. Nicht nach irgendeinem Land oder einer Stadt, sondern nach meinem zu Hause, nach dem Haus meiner Eltern, dem Wohnzimmer im Stil meiner Mutter – mit ihr darin, wie sie lächelte, wie sie ihre Hände hielt, wie sie atmete, so ruhig, so besonnen, als sei ihr nie etwas Böses in dieser Welt widerfahren. Die Weihnachtsstimmung um mich herum kam mir auf einmal unzureichend vor, allenfalls wie ein schlechter Abklatsch der Atmosphäre, die bei uns zu Hause geherrscht hatte. Ich wurde feindselig gegenüber den anderen Besuchern: Die wussten gar nichts, verstanden gar nichts, schätzten gar nicht, wie schön ihre Bräuche waren. Warum schoben sie sich überhaupt durch die engen Gassen mit ihren genervten grauen Gesichtern? Gab es eine speziell deutsche Besessenheit mit Weihnachten? Und wieso hatte all das nicht einfach aufgehört, als sie anfingen mit den Nazis ins Bett zu gehen?

All das passt nicht zusammen, schrie es in mir. Natürlich!, schrie es zurück, sei kein dummes Kind! Es passt genauso gut wie das silberne Lametta an den Baum, den man draußen abgeschlagen hat!

Ich werde durch das Geschrei von hinten aus meinen Gedanken gerissen.

„Light the tree, light the tree“, skandiert eine Gruppe fröhlich-dreister Amerikaner, die vom deutschen Christkind da vorne auf der Bühne gänzlich unbeeindruckt sind. Sie lachen und johlen sogar die Idee einer besinnlichen Stimmung weg. Wie hätte meine Mutter darauf reagiert?

„Also nein!“, höre ich dann. „Nein, nein, nein!“ Die Stimme der Frau geht im Gewimmel der englischen Intonationen um uns herum fast unter. Ich kann trotzdem die Tränen heraushören. Dann dreht sich die Frau um, schiebt sich so schnell wie möglich durch das Menschengestöber hindurch und läuft davon.

Ich gehe ihr nach. Sie ist schnell, trotz ihres Alters, und ich habe Probleme mitzuhalten. Der Trubel, der vor den vielen Geschäften, an denen wir vorbeilaufen, herrscht, macht es schwierig, sie im Auge zu behalten. An der nächsten Straßenecke biegt sie ab. Ich beschleunige meine Schritte, damit ich sie nicht verliere. Als ich um die Ecke eile, bleibe ich erschrocken stehen. Die Frau steht direkt vor mir und schaut mich an, als ob sie auf mich gewartet hätte.

„Dieses Hotel hier hat eine wunderschöne Lobby“, sagt sie und deutet mit einer Kopfbewegung auf die massiven dunkelgrünen Eingangstüren des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Ich nicke. Bin sprachlos.

„Wollen Sie mir dort hinein auf einen Kaffee folgen? Hinterhergehen tun Sie mir ja ohnehin.“

Woher weiß sie, dass ich Deutsch verstehe? Kennen wir uns vielleicht von irgendwo? War sie eine Bekannte meiner Eltern, eine Freundin sogar, die ich nun nicht einmal mehr erkenne?

„Gerne“, bringe ich hervor.

Wenige Minuten später sitzen wir uns gegenüber. Vor mir steht eine Tasse dampfenden Kaffees. Vor ihr ein Glas Scotch.

„Nun?“, fragt sie mich herausfordernd. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ Ihre Tränen höre ich nicht mehr. Da ist Härte in ihrer Stimme.

„Wenn ich das wüsste.“

Sie mustert mich durchdringend, so als ob ihr plötzlich aufkommt, dass sie mich verwechselt hat und gerade erst versteht, dass ich in Wirklichkeit jemand ganz anderes bin. Ihr bitterer Gesichtsausdruck besänftigt sich etwas, aber die stechend blauen Augen bleiben mißtrauisch. Langsam schiebt sie den unberührten Scotch vor mich.

„Trinken Sie.“

Ich zögere nicht und trinke das Glas in einem Zug aus. Dann nicke ich ihr dankbar zu.

„Und jetzt erzählen Sie“, sagt sie.

Ohne Umschweife fange ich an. So schnell ich kann, so viel ich kann, erzähle ich ihr über meine Mutter, ihr Schicksal, ihren Schmerz über Deutschland, ihre Sentimentalität bezüglich des Weihnachtsfestes.

„Als ich Sie da draußen stehen sah…“ – endlich verebbt mein Wortschwall. „Sie haben mich an sie erinnert.“

Ich sehe, wie ihre Hand zittert und schiebe ihr meine Kaffeetasse hin, als ob das irgendetwas helfen könnte.

„Sie mussten Deutschland auch verlassen, nicht wahr?“, sage ich und bin dabei plötzlich beflügelt von einem sechsten Sinn, dass ich die Frau vor mir ja schon längst kenne, schon weiß, welcher Horror sie aus ihrem Zuhause vertrieben hat.

Sie nickt. Aber ihre Hand zittert noch immer. Noch mehr.

„Ich bin im selben Jahr wie Sie geboren“, sagt sie und sie unterdrückt dabei ein nervöses Kichern.

Vorsichtig lege ich meine Hand auf ihre.

„Ihre Eltern?“, frage ich leise.

Sie schüttelt ihren Kopf. „Sie sind nicht mitgekommen.“

„Ich bin Ihnen nachgelaufen, weil ich instinktiv ahnte, dass wir uns verstehen würden“, sage ich eindringlich und versuche ihr in die Augen zu sehen. Doch ihr Blick bleibt auf den Tisch gerichtet. Alles, was ich vernehme, ist das ständige Zittern ihrer Finger unter meiner eigenen gebrechlichen Hand.

Dann durchbohren mich ihre Augen.

„Sie verstehen gar nichts!“ Ihre Stimme ist klar und kalt. „Absolut nichts.“

Sie presst wieder rasch ihre Hand vor den Mund, schweigt lange.

„Ihre Eltern sind von den Nazis…?“, fange ich an, als das Schweigen mir schier unerträglich wird, aber sie unterbricht mich.

“Die Nazis, ja die Nazis…, immer wieder die Nazis! Die waren ja überall damals, nicht wahr? Ich meine wirklich überall! Und jetzt sind sie erst recht hier” – sie tippt sich mit dem Zeigefinger ihrer freien Hand langsam mehrmals auf die Stirn, so fest, dass man danach den Abdruck als einen roten Fleck sehen kann – „sie haben sich eingenistet in unserer aller Köpfe. Auf immer! Die kriegen wir doch niemals mehr los!” Sie lacht hohl. Ein schwarzes Lachen, wenn es eine Farbe hätte.

„Nicht doch“, sage ich beschwichtigend, „Sie dürfen sie nicht gewinnen lassen. Sie sind doch hier, Sie haben überlebt und die Nazis haben keine Macht mehr über Sie oder über mich oder sonst irgendwen.“

Innerlich stöhne ich. Ich klinge albern, wie ein hölzernes Klischee.

Wieder das nervöse Kichern der Frau.

„Wollen Sie erzählen?“, frage ich sie noch einmal, weil mir nichts anderes einfällt.

Sie sieht sich nach allen Richtungen um, als ob wir beobachtet werden könnten.

„Ja. Wieso nicht? Sie wollen es ja so gerne hören, nicht wahr?“

Es stimmt. Ich bin auch hier, weil ich einen Drang habe, Geschichten wie die von mir und meiner Mutter zu hören. Immer wieder. Immer mehr. Wenn nur niemand je aufhört davon zu erzählen!

„Lassen Sie mich so anfangen: Ich habe meine Eltern nicht verloren, weil sie in Auschwitz oder irgendwo sonst vergast worden sind. Meine Mutter hat den Krieg sogar überlebt, das weiß ich mit absoluter Gewissheit. Ich habe sie nämlich gesehen. Nur von weitem. Ich wusste, dass es für uns keine Zukunft mehr gab. Ich war es, die für sie in den Gaskammern der Nazis gestorben war.“

Ich schaue sie verständnislos an. Kinderlandverschickung, denke ich zaghaft, aber meine Verwunderung bleibt.

„Waren Sie damals auch auf dem Weihnachtsmarkt von Burgheim?“, fragt sie unvermittelt.

Ich schüttle den Kopf. In meinem Redeschwall von vorhin hatte ich auch meine Reise zu den Weihnachtsmärkten erwähnt. „Er war auf meiner Liste, aber Burgheim lag zu weit weg von meiner Route.“

„Burgheim hatte vor dem Krieg den schönsten Markt von allen. Jedes Jahr wurde ein junges Mädchen ausgewählt, das den Markt als Christkind verkleidet eröffnen durfte. Manche Leute erzählen mir, dass der Markt immer noch der schönste von allen sei, aber ich glaube denen kein Wort. Burgheim hatte damals die perfekte Kulisse. Als ich die Stadt das letzte Mal sah, war der Markt völlig zerstört. Kein Mensch kann diese Aura wiederaufbauen.“

An dieser Stelle wird sie vom Kellner unterbrochen. Sie bestellt noch einen Scotch und blickt mich fragend an, aber ich lehne dankend ab. Sobald der Kellner sich entfernt, fährt sie fort.

„Als ich drei Jahre alt war, gingen meine Eltern das erste Mal mit mir hin. Ich kann mich sogar noch etwas daran erinnern, so gewaltig war der Eindruck. Danach gingen wir jedes Jahr zur Eröffnung. Einmal hatte ich am Tag vorher hohes Fieber und meine Mutter sagte, dass wir es dieses Jahr vielleicht ausfallen lassen müssten. Da packte ich meine Füße die ganze Nacht auf Eis, nur damit das Fieber sich senkte. Es war mein größter Traum, dass ich selbst einmal Christkind sein würde! Meine Eltern belächelten mich anfangs, aber als sie sahen, wie ernst es mir war, ermutigten sie mich.“

Der Kellner stellt ihren Drink vor sie hin, sie greift rasch nach dem Glas und nimmt einen tiefen Schluck.

„Als ich dreizehn Jahre alt war, wurde ich zum Christkind von Burgheim ernannt. Es war, als ob der liebe Gott persönlich meine zahlreichen Gebete erhört hatte. Mein Lehrer verkündete es mir nach der Schule. Ich rannte den ganzen Weg nach Hause, um es meiner Mutter zu erzählen.“

„Und dann haben meine Eltern es mir verboten. Verboten! Können Sie sich das vorstellen? ‚Nicht in solchen Zeiten’, versuchte mein Vater mir zu erklären. ‚Nicht wenn du damit einer bösen Sache dein hübsches Gesicht und ganzes Herz verleihst, sagte meine Mutter. Sie sprach oft so. Als ob sie an einem verdammten Gedicht schrieb.“

„Ihre Eltern waren Gegner des Hitlerregimes.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung meinerseits. Endlich begreife ich, dass ich keine Version meiner eigenen Geschichte höre.

Sie nickt langsam und ihr Blick senkt sich auf ihre Hände. Ich lege meine Hand, die ich vorhin zurückgezogen habe, als ihr Zittern aufhörte, wieder auf ihre. Überrascht blickt sie auf. Resigniert. Dann zieht sie ihre Hand schnell unter meiner hervor, legt sie auf meine und packt so fest zu, dass ich vor Schmerz fast aufschreie.

„Sehen Sie, ich habe meinem Vater damals nicht verzeihen können, dass er mir das Christkindsein verboten hatte. Kurz danach ging ich zu meinem Lieblingslehrer. Der war ein richtiger gläubiger Nazi. Ich erzählte ihm alles. Die Reaktion meiner Eltern auf meine Ernennung. Die Gespräche hinter zugezogenen Fenstern, die meine Eltern mit ihren gleichgesinnten Freunden führten. Der wahre Grund, warum ich nicht Christkind sein durfte. Ich hatte doch alles mitbekommen, was bei meinen Eltern vor sich ging, sogar die Pläne meines Vaters zum Attentat! Als ich geendet hatte, legte mein Lehrer mir beide Hände auf die Schultern. Seine Stimme war belegt, erregt von dem, was er gerade erlebt hatte. ‚Mein Kind’, flüsterte er heiser, aber dann fing sich der Schwächling und räusperte sich, ‚du, mein Kind, hast dem Führer gerade die größte Ehre erwiesen. Du hast deine Wahl getroffen, eine heroische Wahl! Ich sage dir ehrlich, dass ich nicht weiß, ob ich das fertiggebracht hätte… die eigenen Eltern…’. Dann sah er meinen Gesichtsausdruck und bekam es mit der Angst zu tun. Er löste seine Hände von meinen Schultern, trat zurück und riss den rechten Arm nach oben: ‚Heil Hitler!’, schrie er mehrmals wie von Sinnen und verlies das Klassenzimmer.“

Beim ‚Heil Hitler‘, das die Frau fast geschrien hatte, zucke ich zusammen und ziehe abrupt meine Hand weg. Da lächelt sie mir zu.

„Ahh – jetzt verstehen Sie endlich“, sagt sie langsam.

Ich sitze da und sage kein Wort. In meinem Kopf höre ich plötzlich laut und deutlich meine Mutter während einer unserer Auseinandersetzungen über ihre Hartnäckigkeit Weihnachten weiter zu begehen: ‚Die Wahrheit ist, mein Kind, dass ich mich lieber an manche Bräuche erinnere als an manche Menschen.’ Dann hatte sie mich fest in die Arme genommen und auf den Schwibbogen gezeigt, den sie gerade im Wohnzimmerfenster angezündet hatte.

„Nun verschwinden Sie schon. Scotch und Kaffee gehen auf mich. Und fröhliche Weihnachten!“

Ich höre das hohle Lachen der fremden Frau, als ich mich erhebe.

„Danke, dass sie mir von ihren Eltern erzählt haben“, sage ich und sehe sie ein letztes Mal an. Ich weiß, dass meine nächsten Worte ihr Lachen ersticken werden. „Sie müssen wundervolle Menschen gewesen sein, ihr Vater und ihre Mutter. Ich hätte sie gerne kennengelernt.“

Draußen angekommen mache ich mich zurück auf den Weg zum Markt. Die dicken Flocken und die Straßenabsperrungen wegen der Veranstaltung haben die Innenstadt besänftigt, Chicago sieht fast friedlich aus. Die Bühne ist leer und ich weiß jetzt, wie meine Mutter auf das Schauspiel von vorhin reagiert hätte. Sie hätte sich darüber lustig gemacht und sich trotzdem daran erfreut. Ich kaufe gebrannte Mandeln, weil ich meinen Enkelkindern vorhin versprochen habe, welche mitzubringen. Ich muß ihnen davon erzählen, denke ich auf einmal beglückt, wie ihr Uropa einst versucht hatte, gebrannte Mandeln selbst zu machen, um seine geliebte Frau zu überraschen.