Der Mann blickte auf den Esstisch. Zimtsterne und Lebkuchen lagen verführerisch auf einem roten Porzellanteller, dessen Rand mit winzigen Sternen verziert war. Der Teller war ihm vertraut. Er war identisch mit dem, den Tilli immer für Plätzchen benutzt hatte. Klaus erinnerte sich an das Lächeln seiner Frau, wenn dieser Teller im Dezember mitsamt den anderen Weihnachtssachen aus dem Keller nach oben in die Küche umziehen durfte.
In der Mitte des Tisches stand ein Adventskranz in dunklem Tannengrün, geschmückt mit getrockneten Orangenscheiben und Zapfen. Das Stövchen mit der dampfenden Kanne stand nah bei ihm. Dahinter die lächelnden Gesichter der Familie. Klaus seufzte, nahm seine Tasse und nippte.
Pfui Teufel, der abgestandene Tee von gestern!
„Verdammte Weihnachtszeit“, grummelte er und starrte den Bildschirm mit dem Foto der festlich gedeckten Adventstafel vorwurfsvoll an. Dann griff er nach seiner Tasse und schlurfte in die Küche. Er stellte den Wasserkocher an. Wartete. Er hatte keine frischen Teebeutel mehr im Haus, also musste es eben nochmal der von gestern Abend tun.
Sein Blick wanderte zum Fenster und blieb an dem rostigen Nagel hängen, der direkt in der Mitte des oberen Holzrahmens steckte. Er überlegte und wurde unruhig, als ihm nicht sofort einfiel, was Tilli dort immer aufgehängt hatte. Dann sah er erleichtert eine große Schneeflocke aus Papier vor seinem inneren Auge. Ja, genau, die war es gewesen.
Dieses Jahr gab es echte Schneeflocken. Klaus schüttelte den Kopf. Draußen sah es aus wie in einem Weihnachtsbilderbuch. Wie hatte Tilli zu ihrem letzten Weihnachtsfest vor zwei Jahren auf weiße Weihnachten gehofft. Was sie bekommen hatte, waren Tage grauen Regens gewesen. Nicht ein Flöckchen. Tilli hatte ohne das friedliche Weiß gegen den Krebs kämpfen müssen und wie erwartet verloren.
Das leise Piepsen des Wasserkochers riss ihn aus seinen Gedanken. Er goss den Tee auf und ging zurück ins Arbeitszimmer. Hier erinnerte ihn am wenigsten an sie. Es war das Zimmer, in das er sich während ihrer Ehe zurückgezogen hatte, wenn sie ihm auf die Nerven fiel und er Abstand brauchte. Jetzt war es sein Zufluchtsort, damit er sie nicht zu sehr vermisste.
Er klickte auf eine Taste und wieder erschien das Bild mit dem einladenden Tisch. Zwei neue ‚gefällt mir‘ waren hinzugekommen. Wenn er hineinsteigen könnte in dieses heimelige Esszimmer seiner Freunde, er würde es tun. Vorsichtig hob er die Teetasse an seine Lippen. Es tat gut, wie das heiße Getränk ins Innerste seines Körpers floss.
Das erste Jahr nach Tillis Tod hatte er so viele Einladungen zum Weihnachtsfest bekommen wie nie zuvor. Die Besuche waren in Stress ausgeartet. Er erinnerte sich, dass er der Familie auf dem Foto vor ihm absagen musste, weil er bereits woanders zugesagt hatte. Dabei wäre er eigentlich lieber zu ihnen gegangen.
Aber Mitleid mit einem Greis, der seine Frau nach über vierzig Jahren Ehe verloren hatte, hatte wohl ein Haltbarkeitsdatum und dieses Jahr war es schon abgelaufen. Nein, wies er sich innerlich zurecht, das war unfair. Er hätte ja auch mal jemanden zurück zu sich einladen können. Aber woher die Kraft nehmen?
Klaus drückte auf ‚Kommentar abgeben‘ und fing an zu tippen: „Fröhliche Weih…“
Es klingelte. Ungekämmt, noch in Schlafanzug und Bademantel, obwohl es schon kurz nach Mittag war, hatte Klaus nicht die Absicht aufzumachen. Aber neugierig war er und vom Fenster seines Arbeitszimmers konnte er ungesehen auf die Eingangstür herabblicken. Er atmete erleichtert auf, als er die kleine Sophie vom Haus gegenüber erkannte. Kindern in ihrem Alter war es egal, ob einem die Haare zu Berge standen. Er ging hinunter.
„Fröhliche Weihnachten“, grüßte er sie.
„Hast du Zucker?“ Sie streckte ihm lächelnd eine leere Plastikschüssel entgegen.
„Da hast du Glück.“ Er nahm ihr die Schüssel ab und winkte sie hinein in die Küche.
„Ich heiße Sophie“, sagte das Mädchen, während sie ihm zusah, wie er Zucker aus einem großen Glascontainer in ihre Plastikschüssel rieseln ließ.
„Das weiß ich doch“, antwortete er ihr, „und ich bin der Herr Rieder.“
„Wieso wohnst du ganz allein in diesem großen Haus, Herr Rieder?“
Eine große Prise Zucker landete auf dem Boden.
„Oh nein!“ Sophie kniete sich hin und fing an den Zucker mit ihren kleinen Händen zusammenzuschieben. „Du musst nicht weinen, Herr Rieder“, tröstete sie ihn dann, „siehst du, ist alles noch da!“
Klaus wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und zwang sich zu lächeln.
„Das hast du fein gemacht. Den ganzen Zucker gerettet!“
Das Mädchen nickte stolz. Er half ihr noch die Hände zu waschen, dann drückte er ihr die Schüssel in die Hand. Sophie bedankte sich und lief schnell über die Straße. Bevor sie ihre Haustür öffnete, drehte sie sich noch einmal um und winkte. Klaus winkte zurück, dann machte er sich auf den Weg zurück ins Arbeitszimmer. Er seufzte und drückte auf eine Taste. Das flackernde Feuer, das er als Bildschirmschoner anhatte, versank ins Nichts und gab den Blick auf seinen Social Media Feed frei.
Aber das Foto war von einer Box mit einer Textnachricht verdeckt: „Lieber Klaus, wünsche dir einen schönen Heiligabend! Wollen wir ein wenig ‚plaudern’?“
Er kniff die Augen zusammen, um den Absender zu entziffern: „Gabi2:9-14“.
Klaus kannte keine Gabi, aber er hatte von diesem Phishing gehört, vor dem man sich online hüten musste. Er bewegte den Cursor auf das Kreuz zum Wegdrücken des Textes, hielt aber inne, als ein kurzer, heller Klang ertönte. Vor seinen Augen erschien eine zweite Nachricht.
„Ich vermisse Tilli und dachte, wir könnten gemeinsam in Erinnerungen schwelgen…“
Klaus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Gabi? So tief er auch in seinem Gedächtnis kramte, er konnte sich an keine Freundin Tillis mit diesem Namen erinnern.
„Hallo“, fing er schließlich an zu tippen. „Entschuldigung, aber Ihr Name sagt mir gar nichts. Ich kenne keine Freundin von Tilli mit dem Namen Gabi.“
Fast sofort ertönte wieder der sanfte Ton.
„Ich bin mit Tilli durch dick und dünn gegangen.“
„Ach ja“, tippte er mit energischen Fingerspitzen, „und ich dachte, das wäre ich gewesen!“
„Ja, natürlich, du auch. Tilli hat sich nur selten über dich beklagt.“
Klaus stieß sich mitsamt seinem Bürostuhl so fest von der Tischkante ab, dass er in die Mitte des Raumes rollte. Was erlaubte die sich eigentlich?!
Mit Hilfe seiner Fersen bugsierte er sich und den Stuhl zurück zum Schreibtisch.
„Sie haben Tilli also regelmäßig gesehen, ja? Da haben Sie doch bestimmt ab und an Fotos gemacht, könnten Sie mir eines schicken?“
Klaus grinste und stellte sich darauf ein, jetzt erst einmal eine Weile lang keine Antwort zu bekommen, bis die Person sich eine gute Ausrede überlegt hatte, doch da erklang bereits der vertraute Ton, der eine neue Nachricht signalisierte.
„Haha, lieber Klaus, ich weiß ganz genau, was du treibst… Du traust mir nicht über den Weg und willst einen schlagkräftigen Beweis, stimmt’s?“
Jetzt war er es, der sich erst einmal überlegen musste, wie er reagieren sollte. Aber da erklang schon wieder der Ton.
„Ich schlage dir einen Handel vor. Du schickst mir ein Bild von dir, so wie du heute aussiehst, am besten eines, wo du in eines deiner legendären selbst gebackenen Plätzchen reinbeißt. Im Gegenzug bekommst du die letzte Aufnahme von mir und Tilli. Sie trägt darauf den Schal aus der schottischen Schafswolle, den du ihr damals gekauft hast, als die Chemo losging.“
Seine Hände zitterten, er verschränkte die Finger fest ineinander, presste sie sich an die Stirn, als ob er sich ans Beten machen wollte. Wie konnte die unbekannte Person das wissen? Er hatte Tilli den Schal damals geschenkt, weil er gelesen hatte, dass Krebskranke oft frieren. Aber Tilli hatte den Schal gehasst, weil er sie wie verrückt gekratzt hatte. Sie hatte diesen nur äußerst selten und nur ihm zuliebe getragen, nie um den Hals, höchstens um die Schultern gelegt.
„Ok“, tippte er, „geben Sie mir fünf Minuten, dann schick‘ ich ein Bild von mir.“
„Nimm dir alle Zeit der Welt.“ Die Antwort erschien begleitet von einem Emoji mit Heiligenschein. Klaus grunzte genervt, erhob sich und ging zum Kleiderschrank im Schlafzimmer.
Kurz überlegte er, ob er den Cashmere Pullover einfach nur über den Bademantel ziehen sollte. Dann holte er doch ein vollständiges Outfit aus dem Schrank. Immerhin war Heiligabend, also konnte er sich auch gleich richtig in Schale werfen. Nachdem er sich die Haare gekämmt hatte, wanderte sein Blick vom Badezimmerspiegel zum Fenster hinaus. Eine Amsel landete auf dem Vogelhäuschen und sah sich suchend um. Wie Klaus wusste, vergeblich. Er nahm sich fest vor, später endlich das Futter aus der Garage zu holen.
Plötzlich klingelte es erneut an der Tür. Klaus lief hinunter und öffnete.
Es war wieder Sophie von gegenüber, aber diesmal war ihr Vater dabei.
„Fröhliche Weihnachten, Herr Rieder“, sagte dieser freundlich und reichte ihm die Hand.
„Na, braucht ihr jetzt noch etwas Mehl?“, fragte Klaus und blickte auf Sophie, die sofort lachend den Kopf schüttelte.
„Nein, nein“, erklärte ihr Vater dann, „diesmal bräuchten wir nur Sie!“
Klaus runzelte fragend die Stirn.
„Ich habe ein neues Spiel“, erklärte Sophie, „und dazu braucht man vier Leute, aber wir sind nur drei.“
„Ah so… Na…, ich, ähm…“ Klaus blickte zwischen den beiden hin und her.
„Wenn Sie nichts anderes vorhaben, Herr Rieder, kommen Sie doch einfach mit rüber. Meine Frau und ich würden uns richtig freuen. Die Weihnachtsgans ist schon im Ofen und reicht ganz sicher für vier!“
Später wusste Klaus gar nicht mehr, wie der ganze Abend so schnell vergangen sein konnte. Sie hatten gespielt, gelacht, gegessen, getrunken, noch mehr gelacht und irgendwo dazwischen hatten Sophie und er sogar die Zeit gefunden Weihnachtsplätzchen zu backen. Am Ende saß er auf einem gemütlichen Sessel gegenüber einer gigantischen Couch, wo Sophie eingebettet zwischen ihren Eltern eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen bekam, deren Ende Klaus allerdings nie erfuhr, weil das Kind nach zwei Minuten eingeschlafen war. Danach wurden nur noch Geschichten erzählt, die das echte Leben geschrieben hatte.
Als er kurz nach Mitternacht wieder zu Hause war, die Treppe hochstieg und Richtung Schlafzimmer lief, fiel sein müder Blick durch die offene Tür des Arbeitszimmers auf den flackernden Bildschirm. Siedend heiß fiel ihm sein Versprechen von vorhin an diese Gabi ein. Er klickte auf dem Monitor umher, aber egal was er anstellte, alle Nachrichten von Gabi waren spurlos verschwunden. Schließlich gab er auf. Er wollte den Computer hinunterfahren, da fiel sein Blick auf den neuesten Post seiner Freunde mit dem festlich geschmückten Adventstisch von heute Nachmittag. Das aktuelle Bild zeigte einen Weihnachtsbaum, der prachtvoll in der Mitte ihres Wohnzimmers stand. Als Bildunterschrift hatte seine Freundin Martina ein Zitat ausgewählt: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude!“
Und auf einmal wusste Klaus, dass er Recht gehabt hatte und dass es keine Freundin namens „Gabi2:9-14“ im Leben seiner Tilli gegeben hatte. Er tippte ein rasches „Fröhliche Weihnachten, liebe Martina und Familie, hoffentlich sehen wir uns bald!“ als Kommentar unter das Foto, knipste alle Lichter bis auf das Nachlicht aus und legte sich ins Bett, wo er kurze Zeit später friedlich einschlief.